AUS DEM PARISER MATHURIN-ATELIER

Illuminierte „Taschenbibel“ um 1250

TITEL

Sogenannte Taschenbibel.
Biblia Sacra. Die heilige Bibel.

ENTSTEHUNG

Paris, Mathurin-Atelier, um 1250

BESCHREIBUNG

Schönes und typisches Beispiel einer Taschenbibel. Illuminierte Handschrift auf Jungfernpergament. Zwischen 1170 und 1230 wurden im Zusammenhang mit dem Lehrbetrieb an der Pariser Universität grundlegende vereinheitlichende Neuerungen an der Form der lateinischen Vulgata eingeführt, und zwar eine standardisierte Anordnung der biblischen Bücher, eine standardisierte Kapitelzählung und eine festgelegte Reihenfolge ergänzender Texte. Infolgedessen nahm die Bibelproduktion des 13. Jahrhunderts vor allem in Paris quantitativ einen beachtlichen Umfang an. Großen Erfolg hatten kleinformatige Kodizes, die in Dicke, Format und Inhalt an die heute im Schulunterricht üblichen Bibeln erinnern. Es sind handliche Stücke, die im Gegensatz zu den in der Regel schweren und großen Bibeln des 12. Jahrhunderts bequem in einer Tasche Platz fanden. Um dies zu erreichen, wurde ein extrem dünnes Pergament als Beschreibstoff gewählt. Als Schrift diente die französische Perlschrift mit einer Zeilenhöhe von ein bis zwei Millimetern. Zwei Spalten und Kolumnentitel erleichterten die Lesbarkeit. Auf große Illustrationen wurde zugunsten eines Schmuckes durch Zierinitialen verzichtet. Vorliegende Bibel, welche aus der Bibliothek Otto Schäfer stammt, wurde in einer der zahlreichen Pariser Schreibwerkstätten hergestellt, die sich vornehmlich auf die Produktion von Bibeln spezialisiert hatten. Es handelt sich hier um das sogenannte „Mathurin“-Atelier“, benannt nach einem Brevier, was dort kurz nach 1247 für die Trinitarier von St. Mathurin in Paris hergestellt wurde (vgl. R. Branner, Manuscript Painting in Paris during the Reign of Saint Louis, 1977, S. 75-77 u. 214-15).

BEDEUTUNG

Die hier vorliegende Handschrift gehört zu den sogenannten Perlbibeln, den kleinsten Vollbibeln, einem Handschriftentyp, der im frühen 13. Jh. im Umkreis der Universität Paris entwickelt wurde und den Bedürfnissen der Studenten, bald aber auch der neuen Bettelorden, entsprach. Für die Pariser Bibeln kennzeichnend ist ein sich schnell festigender Kanon der biblischen Bücher, eine gereinigte Vulgata-Version, die konsequente Erschließung durch Kolumnentitel und Kapiteleinteilung und die Ergänzung um die Interpretationen hebräischer Namen. All diese Merkmale weist das vorliegende Exemplar auf.

Derartige Bibeln wurden von professionellen Schreibern und Illuminatoren hergestellt, oft in arbeitsteiligen Verfahren, was die sichere Zuweisung an einzelne Ateliers erschwert. Die Pariser Perlbibeln sind das erste Beispiel für die Massenproduktion lateinischer Bücher und bilden eine Epoche der Buchgeschichte, die durchaus in ihrer Bedeutung mit der der Erfindung des Buchdruckes durch Gutenberg verglichen werden kann. Gerade die Bettelorden und die Studenten brauchten Handschriften und verfügten weder über die Zeit und Muße noch die Infrastruktur eines monastischen Skriptoriums. Außerdem entwickelten sich beide Einrichtungen, Universität wie Bettelorden, explosiv, so dass in kurzer Zeit eine riesige Nachfrage nach Bibeln bestand. Daher entstand schnell ein Markt für neue und gebrauchte Handschriften.

Die Pariser Perlbibeln waren ein Markenzeichen, denn hier konnten sich die Käufer darauf verlassen, dass der Text vollständig und den Normen entsprechend enthalten war. In einer Zeit, in der sich die Inquisition, gerade von den Dominikanern getragen, ausbildete und sich die Kirche gegen ketzerische Bewegungen abgrenzte, war es unbedingt wichtig, auf autoritative Texte zurückgreifen und einzelne Passagen sicher zitieren zu können. Deshalb bevorzugten die Bettelorden diese normierte Bibel. Da Studenten und Bettelmönche höchst mobil waren, wurden die Pariser Bibeln im Zuge des zweiten Viertels des 13. Jahrhunderts immer kompakter und kleiner, denn sie sollten mitgeführt werden können. Schließlich wurde ein Buchtypus, die Taschenbibel, entwickelt, die wirklich in jeder Tasche ihren Platz finden konnte und trotzdem den gesamten Bibeltext enthielt. Ihre kleine, schmale und trotzdem eindeutig lesbare Schrift, eine oft als Perlschrift bezeichnete Textualis, setzte junge Augen oder die Benutzung von Lesestein oder Brille voraus. Diese optimale Form findet bis heute in den Dünndruckbibeln im gleichen Format ihre Nachfolger. Ihr spezifisches Erscheinungsbild mit dünnem Pergament, kleinem Format und ihr charakteristisches Layout wurden bald in England (Cambridge, Oxford) wie Italien (Bologna) nachgeahmt.

Es gab um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine ganze Klasse von Handschriften, die in etwa eine Blattgröße von 15 x 10 cm aufwiesen und die als wirkliche Taschenbibeln bezeichnet werden können. Zu nennen sind hier als Vergleichs- und Datierungsbeispiele Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. Diez C. oct. 35, 1. Hälfte 13. Jh.; ebd., Theol. lat. oct. 121, 3. Viertel 13. Jh.; Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 132 F 21, Mitte 13. Jh.; New York, Grolier Club, ms. 1, 2. Viertel 13. Jh.; New York, Public Library, MA 7, Mitte 13. Jh.; New York, Public Library, MA 11, Mitte 13. Jh.; Philadelphia, Free Library of Philadelphia, Rare Book Department, Lewis E 028, Mitte 13. Jh.; Schaffhausen, Stadtbibliothek, Gen. 4a, mittleres Drittel 13. Jh.; Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. bibl. 8°, 2; ebd. Cod. bibl. 8°, 18; ebd. Cod. bibl. 8°, 5, alle um 1250; Utrecht, Rijksmuseum Het Catharijneconvent, BMH h 1, Mitte 13. Jh.; Paris, Bibliothèque Nationale, ms. lat. 10514; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 60.9 Aug. 8°, Ende des 13. Jh.

Das Mathurin-Atelier war nach Branner auf die Herstellung von Perlbibeln spezialisiert und in den 1240er und frühen 1250er Jahren aktiv. Gerade die kleinformatigen Bibeln bildeten den Hauptteil der dokumentierten Produktion dieser spezialisierten Werkstatt. Die Werkstatt ist für äußerst verfeinerte und routinierte Buchherstellung bekannt und umfasste mindestens drei oder vier stilverwandte Buchmaler.

Insgesamt handelt es sich um den Prototyp der Pariser Bibel, ein vollausgestattetes Exemplar aus dem wichtigsten und für seine Bibeln bekannten Atelier, eine ideale Taschenbibel, das fortgeschrittenste Erzeugnis gotischer Buchkunst des 13. Jahrhunderts, des Buchs, auf dem die gesamte Scholastik aufbaute. Sie wurde erst in der Seelsorge, dann zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt und schließlich bereinigt. Da ein Großteil der bekannten aus dem Mathurin-Atelier in institutionellem Besitz ist, ist der Erwerb dieses idealtypischen Exemplars eine seltene Gelegenheit. Noch ein letztes zeigt die Bedeutung der Handschrift: regelmäßig werden ihre Parallelhandschriften in großen Handschriftenausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert: unter den Schätzen der Königlichen Bibliothek in Haag 1980, unter den besonderen Schätzen der Staatsbibliothek Berlin 1988, als Splendor of the world in New York 2006, um nur einige zu erwähnen.

AUSSTATTUNG

Zweispaltige Perlschrift in dunkelbrauner Tinte in gotischer Minuskel in 52 Zeilen. Kolumnentitel in alternierend roten und blauen Lombarden, Kapitelzählung an Bund und Außensteg entsprechend in roten und blauen römischen Ziffern. Einzeilige Initialen in den Psalmen und Interpretationes alternierend in Rot und Blau. Zweizeilige Initialen zu den Kapiteln in Rot oder Blau mit teilweise seitenhohem Fleuronnée in der Gegenfarbe. Zu Beginn der Prologe etwa 60 mehrzeilige Initialen mit Fleuronnée in Rot und Blau (eine ausgelassen).

Zu Beginn der biblischen Bücher etwa 83 große Randleisteninitialen in Deckfarben und poliertem Gold, gefüllt mit Blattranken, teilweise mit langgezogenen Ausläufern, diese besetzt mit Blattranken oder grotesken zoomorphen Figuren wie löwenartigen Köpfen oder Ganzfiguren, geflügelten Drachen oder auch menschlichen Gesichtern. Zur Genesis eine über den gesamten Außensteg reichende historisierte I-Initiale in Deckfarben und poliertem Gold, der goldkonturierte Stamm besetzt mit 8 Medaillons, deren obere sechs die sechs Tage der Schöpfung symbolisieren, im siebten Medaillon der segnende Herrgott, darunter in breiterem Feld der gekreuzigte Christus mit Maria und Johannes. Unten beidseitig symmetrische Ausläufer in Form von zwei geflügelten Drachen. Zahlreiche zeitgenössische Marginalien und Glossen in brauner Tinte. Vor- und nachgebunden sechs Pergamentblätter, beschrieben von Händen des 15. Jahrhunderts mit Merkversen, Listen mit Kapitelinitien und anderen biblischen Tabellen, Notizen zu den biblischen Büchern, den Todsünden u.a.

Blattmaße: 17 x 11,9 cm; Schriftspiegel 11,5 x 7,5 cm.

KOLLATION

395 nicht num. Blatt. Es fehlen die ersten zwei Blatt mit den Epistolae des Hieronymus. Im Bibeltext selbst vollständiges Exemplar. Lagen: 1/16-2; 2-22/16; 23/20-1; 24/14; 25/12.

EINBAND

Brauner Kalbslederband des 18. Jahrhunderts auf vier Bünden mit Streicheisenlinien und vergoldeten Rückentitel. Dreiseitig ziselierter Goldschnitt. Guter Zustand mit Gebrauchsspuren. Deckel, Rücken und Gelenke stärker berieben. Ecken bestossen. Innengelenke an einigen Stellen gelockert. Gelagert in einem dunkelgrünen Leinenschuber.
Oktavformat: 18 x 13 x 5,5 cm; Schuber: 19,8 x 14,7 x 7 cm.

ZUSTAND

Für das stolze Alter von nahezu 800 Jahren guter Zustand. Oben etwas eng beschnitten, die Kolumnentitel teils angeschnitten. Auch im unteren Rand sind die Initialausläufer teilweise beschnitten, desgleichen die Marginalien im Außenrand. Von der Initiale zur Genesis fehlen Teile des oberen und unteren Ausläufers. Stellenweise stärkere Gebrauchsspuren. Wenige Blätter mit Braunfleck im Text. Wenige kleinere Randmängel bzw. Läsuren. Die ersten beiden Lagen mit ein paar versprengten Wurmlöchern. Das erste und letzte Pergamentvorsatzblatt mit dem Papiervorsatz zusammengeklebt.

PROVENIENZ

Bibliothek Otto Schäfer (OS 1578).
Vom Vorbesitzer erworben bei Sotheby’s, London, 25. Juni 1995 (Auktion, Sammlung Otto Schäfer, 2. Teil).

Das Exemplar stammt ursprünglich aus der Bibliotheca Norica des Lukas Friedrich Behaim von Schwarzbach (1587-1648). Auf dem fliegenden Papiervorsatz vorn sein gestochenes Wappenexlibris „Bib: Nor:“ in Siegelform zwei Kreise, darin die drei Wappen der Stadt Nürnberg und das der Behaim, durch Schleifen verbunden (vgl. Warnecke 1473; Berlepsch 1, 59). Behaim hatte von 1643 bis 1648 das Amt des Kirchenpflegers inne. Sein Exlibris ist in der Württembergischen Landesbibliothek dokumentiert. Auf dem Vorsatz ferner eine ganzseitige Notiz einer Hand des 18. Jahrhunderts, die irrtümlicherweise den Band mit der Bibliothek des Eucharius Gottlieb Rinck (1670-1745) in Verbindung bringt. Eine Übersetzung der Handschriften auf den Pergamentvorsätzen wird in gesonderter Datei beigegeben.

Die Tatsache, dass sich neben dem Titel auf dem Rücken auch die Aufschrift „MEMBRANACEA“ befindet, lässt den Schluss zu, dass sich das Buch im 19. Jahrhundert in Beriah Botfield´s „Bibliotheca membranacea“ befunden haben muss. Beriah Botfield (1807-1863) war englischer Geologe, Industrieller und Politiker, sammelte Pergamenthandschriften und verfasste ein gleichnamiges Buch über englische Pergamentdrucke und -handschriften.

NACHWEIS

Literatur/Bibliographie: R. Branner, Manuscript Painting in Paris during the Reign of Saint Louis, 1977, S. 75-77 u. 214-15); Tenschert, Kataloge XXI, 1989, Nr.6 und XXX 1993, Nr.2 und 3.

KULTURGUT SICHER ERWERBEN

Hiermit wird die einwandfreie Herkunft der vorliegenden Handschrift bestätigt. Das Werk ist zum Zeitpunkt des Verkaufs frei von Rechten Dritter und wurde mit der LostArt-Datenbank abgeglichen. Für die Lieferung außerhalb der EU ist eine Ausfuhrgenehmigung der Kulturbehörden erforderlich. Diese wird von uns nach Eingang des Kaufpreises beantragt und dauert ca. 14 Tage. Für die Verbringung in EU-Länder ist aufgrund der festgelegten Wertegrenzen keine Ausfuhrgenehmigung erforderlich.

Preis
94.000 €
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Tilo Hofmann
Artikelnummer
S359
Mittelalterliche Perlbibel mit meisterlichen Illuminationen

Biblia Sacra. Die heilige Bibel.

Sogenannte Taschen- oder Perlbibel

Paris, um 1250

Aus der Sammlung Otto Schäfer
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Tilo Hofmann
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Highlight

Wahrlich ein unglaublicher Schatz!

Das Vierte gedruckte Buch:
Schöffers Durandus von 1459

Diese hier vorliegende Druckausgabe der „Rationale“ von Durandus ist von höchster Bedeutung für die Geschichte der Typographie und gilt als das dritte datierte und vierte überhaupt gedruckte Buch. Vorausgegangen waren lediglich die um 1455 gedruckte Gutenbergbibel sowie die ebenfalls in der Offizin von Fust und Schöffer entstandenen Psalter vom 14. August 1457 und vom 29. August 1459. Eigens für diesen Druck schuf Peter Schöffer die sogenannte „Durandus-Type“, eine Gotico-Antiqua, die Elemente der Rotunda mit den Stilmerkmalen der italienischen Humanistenhandschriften verbindet.

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